Am 19. November führte ich gemeinsam mit Christoph Kutzer, Büro für Zukunftsfragen, Land Vorarlberg, den Workshop "Power to the Children" durch. Wir hatten weit gereisten Besuch von Edwin John und Joseph Rathinam (Children’s Organisation for Participation and Empowerment) aus Indien. Die beiden sind Botschafter, Initiatoren und Trainer für die politische Bewegung der sogenannten Kinder- und Nachbarschaftsparlamente. Nach der Filmvorführung "Power to the Children" führten wir parallel zwei Workshops durch.
Edwin erzählte der Schulklasse derNeuen Mittelschule Kirchdorf, wie Kinderparlamente entstehen und wie sie es selbst gründen können und Joseph erarbeitete mit den Erwachsenen aus Gemeindepolitik, offenen Jugendarbeit, Prozessbegleitung und Jugendorganisationen die Potenziale und Herausforderungen des Transfers des Modelles der Kinderparlamente aus Indien nach Vorarlberg.
Was sind Kinderparlamente?
Hier die Erklärung von Edwin an die Schüler:
Auch Joseph gab Antworten.
Ein Auszug aus der Dokumentation des Workshops (Text von Christoph Kutzer):
Warum und wozu werden lokale Kinderparlamente gegründet?
Kinder lernen in der Schule vieles aber nicht alles was sie brauchen, um ein aktives, erfüllendes Leben zu verwirklichen. Wissen entsteht auch durch Erfahrung im gemeinsamen Tun. Kinderparlamente bieten einen guten Rahmen, um Erfahrung zu sammeln und zu lernen, das Lebensumfeld selbst zu gestalten. Dabei entstehen Fähigkeiten die zur Lösung von Problemen benötigt werden. Kinder bewältigen Herausforderungen und müssen durchhalten, wenn es schwierig wird. Kinder erleben sich als wirksam und gewinnen vertrauen in sich und ihre Mitmenschen. Die konkreten Veränderungen im Lebensumfeld sind vielfältig und reichen von der globalen bis zur persönlichen Ebene.
Wie wirken lokale Kinderparlamente?
In Kinderparlamenten lernen Kinder selbst zur Lösung ihrer Probleme beizutragen. Sie erfahren wie es gelingt, Gruppen zu bilden und diese Gruppen selbst zu moderieren. Viele Beispiele belegen die Wirksamkeit der Parlamente. Kinderparlamente in Indien holen Kinder aus illegalen Arbeitsverhältnissen oder helfen Kinder aus der Nachbarschaft dabei, zur Schule gehen zu können. Müll wird reduziert oder verwendet, Bäume werden gepflanzt, Menschen mit Alkohol- oder Gewaltproblemen erhalten Hilfe, um ihr Verhalten zu verbessern. Vor allem in Afrika, Lateinamerika und Asien finden die Kinderparlamente vermehrt Anwendung. Auf globaler Ebene setzt diese Bewegung – in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen – ein unübersehbares Zeichen für die Einhaltung der Kinderrechte.
Wie wirken die lokalen Kinderparlamente im System?
Die Kinderparlamente sind formal nicht das konstituierte demokratische System in Indien angebunden. Vor allem auf lokaler Ebenen sind die Verbindungen zur Politik und den Behörden wichtig für die Kinder, um Hilfe bei der Lösung ihrer Probleme zu erhalten. Vielerorts erhalten Kinder Unterstützung. Dies ist jedoch von den handelnden Personen abhängig und nicht gesetzlich verankert.
Wie ist die Kinderparlamente-Bewegung entstanden?
In den 70er Jahren wurde von Edwin John ein Nachbarschaftsparlament gegründet. Diese Initiative breitete sich über die Jahrzehnte in Süd-Indien (Tamil Nadu) und in andere Regionen aus. Da festgestellt wurde, dass es eine neue Kultur in der Politik braucht, die vor allem durch die Aktivierung junger Menschen entstehen kann, wurde der Anstoß für Kinderparlamente gegeben. Die Idee ging nicht von Kindern aus.
Wie entstehen lokale Kinderparlamente?
In vielen Fällen geben Erwachsene den Impuls und ziehen sich in eine unterstützende Rolle zurück, wenn das Parlament konstituiert ist. Die Parlamente gehören den Kindern. Erwachsene dürfen beobachten und können sich einbringen, wenn Kinder ihnen das Wort erteilen. Allerdings ist eine kontinuierliche Begleitung durch Erwachsene notwendig, um die Kinderparlamente stabil zu halten. In der Klärung von Aufgaben und Verantwortungsbereichen, dem Erlernen von Moderationstechniken sowie der Finanzierung von Vorhaben braucht es immer wieder Unterstützung von Erwachsenen. LehrerInnen werden darin trainiert SchülerInnen dabei zu begleiten, in ihren Nachbarschaften aktiv zu werden. Gemeindemitarbeitende werden geschult, den Kindern bei der Lösung von Problemen zu helfen. Ein Moderationstraining ermöglicht es den Kindern, ihre Treffen selbst zu moderieren und Lösungen gemeinsam zu entwickeln. Kinder treffen sich und reden darüber was sich verändern soll damit ein besseres Leben für alle entsteht. Alle Kinder werden MinisterInnen für eines der Themen welches als relevant gesehen wird. Nach einer Wahl der Kinder in ihre jeweiligen Ämter erfolgt eine Angelobung durch z.B. den Gemeindevorstand in einer wertschätzenden Art und Weise.
Wie finanzieren sich Kinderparlamente?
Die Kinderparlamente brauchen meist kein oder wenig Geld für ihre Vorhaben. Die benötigten Mittel werden oft durch das Sammeln von Spenden beschafft. Die Kosten für die Unterstützung durch Erwachsene werden durch die Schulen und die Gemeinden gedeckt. Es wird auch Zeit von ehrenamtlich Engagierten aus den Nachbarschaften eingebracht.
Wie sind Kinderparlamente aufgebaut?
Kinderparlamente bestehen aus 12 bis 30 Kindern zwischen 6 und 18 Jahren aus der direkten Nachbarschaft. Alle Kinder haben konkrete inhaltliche Verantwortungsbereiche und wechseln sich in der Sitzungsführung ab. In wöchentlichen Treffen werden Probleme besprochen, Maßnahmen entwickelt und beschlossen. Aktionspläne helfen dabei Lösungen umzusetzen, welche bei Folgetreffen auf deren Ausführung geprüft und reflektiert werden. Bei den Treffen werden Wahlen abgehalten, um „MinisterInnen“ für Themenbereiche zu bestimmen. Die Wahlen finden mit soziokratischen Methoden statt. Jede/r kann vom Parlament jederzeit neu gewählt oder des Amtes enthoben werden, wenn es Gründe dafür gibt. Auch zu inhaltlichen Fragen wird soziokratisch entschieden.
Wie wird soziokratisch entschieden?
Es wird im Konsent entschieden. Das bedeutet, dass die Entscheidung einer Gruppe dann als getroffen gilt, wenn kein schwerwiegender Einwand vorliegt. Einwände beziehen sich immer auf gemeinsam verfolgte Ziele. Eine Konsent-Entscheidung läuft wie folgt ab:
1. Fokussieren: Inhalt des Tagesordnungspunktes? Was soll erreicht werden (=Ziele)?
2. Infos einbringen: Präsentation des Themas/Vorschlags und sammeln relevanter Informationen.
3. Meinung bilden: Alle bringen nacheinander ihre Meinung und Lösungsvorschläge ein.
4. Entscheidungsfindung: Die Moderation formuliert einen Vorschlag auf Basis der Kriterien aus der meinungsformenden Runde. Alle zeigen Zustimmung, Einwand oder schweren Einwand per Handzeichen. Einwände werden argumentiert und integriert. Es wird erneut abgestimmt bis ein Beschluss ohne schwerwiegenden Einwand gefunden ist.
Weitere Informationen finden Sie HIER (Quelle: Erich Kolenaty, 2019)
Welche Rollen nehmen Kinder/Erwachsene ein?
Kinder sind für die Themen und die Umsetzung verantwortlich. Jedes Kind trägt als „MinisterIn“ Verantwortung für ein Thema. Die Aufgabe der „MinisterInnen“ werden gemeinsam definiert. Die Organisation und Leitung der Sitzungen sowie die Maßnahmenplanung liegt ebenfalls in den Händen der Kinder. Erwachsene helfen dabei das Kinderparlament zusammenzubringen und Lösungen für Probleme zu finden. Wichtig ist hierbei, dass die Kinderparlamente und deren Aktivitäten nicht von Erwachsenen für deren Zwecke instrumentalisiert werden. Versteckte Absichten von Institutionen (z.B. Akzeptanzsicherung für Vorhaben, Imageverbesserung, Mitgliedergewinnung…) können das Vertrauen der Kinder in die Demokratie und ihre Engagementbereitschaft negativ prägen.
Wie werden Kinderparlamente über Schulen angestoßen?
Kinder werden in den Schulen in Gruppen eingeteilt welche je 30 Kinder aus den direkten Nachbarschaften zusammenbringen. Unter Begleitung von ausgebildeten Lehrerenden werden Themen definiert und Ministerien eröffnet. Dann werden MinisterInnen gewählt und angelobt. Jede/r LehrerIn unterstützt eine oder mehrere Nachbarschaften beim Aufbau von Kinderparlamenten. Kinder werden durch ein Moderationstraining dazu befähigt die Sitzungen zu führen. Jedes Kind kommt einmal an die Reihe die Moderation zu übernehmen. Ältere Jugendliche unterstützen Kinder dabei.
Wie lange dauert es ein Kinderparlament aufzubauen?
Die Schulungen mit unterschiedlichen Gruppen (Kinder, Lehrende, Gemeindemitarbeitenden) dauert insgesamt ca. fünf Tage. Der Aufbau des jeweiligen Kinderparlaments ist vor allem vom Netzwerk der begleitenden Person(en) abhängig. Besteht bereits ein Vertrauensverhältnis zu Eltern, Kindern und der Gemeinde ist es wesentlich einfacher zur Gründung eines Kinderparlaments einzuladen. Sind keine Kontakte und Beziehungen vorhanden müssen diese durch Gespräche entstehen. Diese Vorbereitung kann mehrere Wochen dauern, ist jedoch maßgeblich für einen guten Start und die Stabilität des Kinderparlaments.
Wie vernetzen sich Kinderparlamente (regional/national/global)?
In Indien haben sich Kinderparlament aus den Nachbarschaften in die Kommunen, Regionen, Bundesstaaten auf die nationale Ebene entwickelt. Die nächsthöhere Ebene wird von der unteren Ebene gewählt und umfasst nie mehr als 30 Personen. Auch ein globales Kinderparlament wird gemeinsam mit den Vereinten Nationen angestrebt.
Wie laufen Trainings für Kinderparlamente ab?
Es werden zwei Tage für die Ausbildung von LehrerInnen und zwei Tage für die Ausbildung von Sozialarbeitenden in Gemeinden eingesetzt. Ein Tag wird für das Moderationstraining mit Kindern benötigt. Nach dem ersten Treffen der Kinder erfolgt die Angelobung der Kinderparlamente. Dann nehmen die Kinder die thematische Arbeit auf.
Wie können diese Trainings initiiert werden?
Für alle Interessierte an Trainings gibt es eine Austausch- und Netzwerkgruppe zur Koordination der Trainings in Europa unter https://community.soziokratiezentrum.org. Konto anlegen, der Gruppe "Neighborhood- and Children Parliaments" beitreten und Hallo sagen. Bei Problemen können Sie sich gerne an mich wenden.
Dirketer Kontakt zu „Childrens Parliament“: Joseph Rathinam: +919444141032, info@ncnworld.org, https://ncnworld.org/. Das „Handbook for Animators“ ist HIER zu finden.
Danke an Joseph Rathinam, Christoph Kutzer und Edwin John
für gelebte Kollaboration und das sogar live in Dornbirn!
POTENTIALE & HINDERNISSE FÜR KINDERPARLAMENTE IN VORARLBERG aus Sicht der Teilnehmenden
Auszug aus der Dokumentation, Text von Christoph Kutzer:
Wesentlich ist, dass Beteiligungsformen nicht eins zu eins von einem Kontinent auf andere Kontinente übertragen werden können. Die Ausgangslage, Bedürfnisse der Kinder und Akteur_innen vor Ort und die Unterstützungsmöglichkeiten durch Institutionen sind wesentlich, für eine gute Anbindung der Beteiligungsform an die Lebensumgebung der Beteiligten. Kinderparlamente enthalten Impulse, welche auch in Vorarlberg angewendet werden können, werden jedoch von den Teilnehmenden des Workshops nicht als direkt kompatibel betrachtet. Einige Impulse sind inspirierend und können aufgegriffen werden.
Die Problemlagen von Kindern in Vorarlberg unterscheiden sich von jenen der indischen Kinder. So
werden etwa die existenzielle Grundversorgung und Schulbildung in Vorarlberg durch öffentliche
Institutionen gesichert. Auch für den Schutz von Kindern vor Gewalt und die Unterstützung bei sozialen Herausforderungen (Armut, Krankheit und Drogenprobleme im familiären Umfeld...) sind in Vorarlberg ausgeprägt. Dies lässt eine geringere Notlage der Kinder und deren Familien erahnen. Der Bedarf an Hilfe zur Selbsthilfe wird verhältnismäßig geringer eingeschätzt. Es wird angenommen, dass das Interesse von Kindern zur Mitwirkung an Kinderparlamenten in Vorarlberg nicht sehr ausgeprägt ist.
Dies hängt auch damit zusammen, dass viele Kinder bereits in mehrere Freizeitaktivitäten
eingebunden sind und deshalb zeitlich bereit stark ausgelastet sind.
Die Annahme, dass Kinder in Vorarlberg wenig Bezug zu Nachbarschaften haben, wird durch eine
„Sozialraumanalyse“ der Stadt Bregenz in Frage gestellt. Hier geben Jugendliche an, 90% der Freizeit
in der direkten Nachbarschaft zu verbringen und auch Ausflüge im nachbarschaftlichen Verbund zu
unternehmen. Hier kann ein Anknüpfungspunkt zu neuen Formen der Kinder- und Jugendbeteiligung
in Vorarlberg bestehen.
Ein weiterer Impuls liegt in der Verteilung der inhaltlichen und organisatorischen Verantwortung. In
Kinder- und Jugendgremien kann es zu einer Konzentration von Aufgaben und Verantwortung auf
wenige Personen kommen. Dies führt zu Problemen in der Ausführung der Tätigkeiten, in der
Mobilisierung von Mitwirkenden und gefährdet das Bestehen des Angebots zur Mitwirkung in
Gemeinden und Regionen. Die Definition von Verantwortungsbereichen und die Wahl von
Verantwortlichen wird als Möglichkeit gesehen, dieser Problematik wirkungsvoll zu begegnen.
Die Alterspanne von 6 bis 18 wird kritisch reflektiert. In Vorarlberg werden Kinder und Jugendliche im Regelfall nicht zu den selben Formaten eingeladen. In Indien wurde die Erfahrung gemacht, dass die Kinder von den Jugendlichen aufgebaut werden, um später selbst mehr Verantwortung übernehmen zu können.
Die vollständige Dokumentation kann hier heruntergeladen werden.
Ergänzend ~ POTENTIALE & HINDERNISSE FÜR KINDERPARLAMENTE IN VORARLBERG aus meiner persönlichen Sicht
Wer von Ihnen kennt seine Nachbarn? Und wer von Ihnen spricht über mit den Nachbarn darüber, wie gemeinsam die UN - Nachhaltigkeitsziele (SDG - Sustainable Development Goals) in der Nachbarschaft erreicht werden können? Ich noch nicht.
Was würden die Kinder und Jugendlichen alles wesentliche lernen, wenn sie sich in solchen Parlamenten organisieren würde? Wäre damit die endlosen Anforderungen an die Schule beendet, dass die Kinder noch dies, das und sowieso in der Schule lernen sollen? Wen ich mit Kindern und Jugendlichen reflektiere, nachdem sie die soziokratische Entscheidungsfindung erlebt haben, sind sie glücklich, zufrieden und stolz, dass sie gemeinsam Lösungen gefunden haben, und zwar ohne zu streiten. Um das geht es doch im Wesentlichen, zu lernen, wie wir in dieser komplexen Welt zu Lösungen kommen, die von allen mitverantwortet werden. Sei es für scheinbar kleine Probleme oder auch für globale Herausforderungen. Fangen wir im unmittelbaren Umfeld an und arbeiten uns weiter.
Herausforderung sehe ich klar darin, wie sich die Kinder und Jugendlichen neben der Schulzeit und dem Freizeitstress dafür Zeit nehmen sollen. Auch darin, wie alle Kinder und Jugendlichen aus der Nachbarschaft zur selben Zeit zusammenkommen können. Örtlich gebunden sind wir durch die Digitalisierung nicht mehr zwingend.
Film - Power to the Children
Ein Dokumentarfilm mit Prädikat "höchst empfehlenswert" ist der Film "POWER TO THE CHILDREN" von Anna Kersting.
Kinder in Indien nehmen ihr Leben in die eigenen Hände. Sie gründen Kinderparlamente für ihre Rechte. Aus Kinderperspektive wird von Herausforderungen und Aktionen erzählt, in einer Welt, die von Kindern erwartet, dass sie dem Beispiel der Erwachsenen folgen. Doch diese Kinder gehen einen neuen Weg – mit Entschlossenheit, Mut, Ausdauer und Kreativität.
Eine DVD mit Lizenz für den nicht kommerziellen Einsatz ist im
Büro für Zukunftsfragen erhältlich.
Wenn Gedanken und Ideen zur Frage: „Welche Anknüpfungspunkte bestehen zu Kinder- und Jugendbeteiligung in unserer Gemeinde/Region/Organisation?“ entstehen, freuen wir, Christoph Kutzer und ich, uns darüber zu erfahren und bei der Umsetzung zu unterstützen.
Der Besuch von Edwin John und Joseph Rathinam wurde vom Soziokratie Zentrum Österreich und das Land Vorarlberg ermöglicht. Danke dafür!
Auf eine solidarische, zukunftsfähige und politische Kollaborationskultur!
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